DER POSTEN VON ST. AIGNAN

 

Kaum war ich fünfzig Schritt weit gegangen, als es plötzlich hinter mir herbrüllte. Ich wußte nicht, ob das Rufen mir galt. Auf jeden Fall war etwas los, und ich drehte mich um. Himmelkreuz ... da sprang ein Wachtposten, den ich schon vorhin mit leisem Unbehagen beobachtet hatte, über die Straße und rannte hinter mir her ! Was sollte ich tun ? Hatte mich der Bursche erkannt ? Wollte er mich festnehmen ?

Ich tat dickfellig. Das war das beste, was ich machen konnte. Frech marschierte ich weiter, aber das Brüllen hörte nicht auf. Schließlich hatte mich der Posten eingeholt ——nun war es aus ! Aber noch nicht ganz. Wenn er mich festnahm, wollte ich den Stummen markieren, und da ich nichts bei mir hatte, was meine Identität verraten konnte, würde ich sicher Gelegenheit haben, wieder auszureißen, ehe man

mich als entwichenen Prisonnier eruiert hatte.

Der Posten ließeine Flut von Worten über mich herniedergehen. Er redete so viel, daßich —Gott sei Dank ! —gar nicht antworten konnte. Ich verstand nicht, was er von mir wollte, sondern vernahm nur die immer wiederkehrenden Worte: „Passe porte ... du Commandant defendu". Als ich mit der Hand stumm in die Richtung deutete, die mich mein Weg führen sollte, begann er wieder, seinem Redeflußungehemmten Lauf zu lassen.

Sichtlich erleichtert merkte ich, daßder Posten mir nicht nachgelaufen war, weil er mich festnehmen wollte, sondern es schien seine Absicht zu sein, mich darauf aufmerksam zu machen, daßes verboten sei, hier entlangzugehen. Wie ich jetzt erst sah, war ich nämlich in meiner Unkenntnis in ein früheres amerikanisches Lager hineingeraten, in dem die Restbestände amerikanischen Materials, das in Frankreich zurückgelassen worden war, aufbewahrt wurden.

Na, den Gefallen, kehrtzumachen, wollte ich ihm gern tun, falls er mich nur laufen ließ. Ich hörte mir seine Rede an, blickte bewundernd auf sein Croix de guerre, auf dem die drei Sterne waren - also mußte er ein sehr guter Soldat gewesen sein —und tat so, als ob ich, wenn auch widerwillig, diesem tapferen Vaterlandsverteidiger den Gefallen tun wollte, zurückzugehen und um das Lager herumzuwandern. Da ich auch etwas sagen mußte, als er fertig war, meinte ich: „C'est dommage". Scheinbar klang das gut französisch; ich machte kehrt, ging, von ihm gefolgt, den Weg zurück, bog rechts ein und verschwand.

Der Posten schien mit mir zufrieden zu sein. Auch er freute sich wahrscheinlich, daßder widerspenstige Arbeiter ihm keine Schwierigkeiten bereitet hatte, und trottete in dem Gefühl, seine Pflicht getan zu haben, freundlich hinter mir her. Mein Herz schlug Generalmarsch.

Jetzt wollte ich aber so vorsichtig wie nur möglich sein, um nicht noch ein zweites Mal in eine so heikle Lage zu geraten. Bald darauf konnte ich feststellen, warum mich der Posten aufgehalten hatte. Das Heeresgutlager war auf einer ganz kleinen Insel untergebracht, wohl um Räuber und Diebe leicht fernhalten zu können.

Nach einer halben Stunde fand ich einen schönen schattigen Baum, setzte mich darunter und entkorkte mit zitternden Händen meine grüne Gurkenflasche. Waren die herrlich sauer ! Sie schmeckten wundervoll. Dann trank ich von meinem Kakao und öffnete mit vieler Mühe sehr vorsichtig die Büchse mit den Ölsardinen. Damit hatte man mich schön angeschmiert. Sie stammten sicherlich noch aus den Zeiten des seligen Methusalem und waren sehr scharf gesalzen.

Unter anderen Umständen hätte ich diese Biester niemals gegessen, aber jetzt waren sie für mich ein wahres Geschenk des Himmels, das mir unverhofft in den Schoßgefallen war. Hier hatte ich das, was ich so furchtbar ersehnte: das Salz. Ich ging sehr haushälterisch mit meinen Vorräten um, aßnur eine Gurke, trank einen Schluck von dem Essig und schüttete mir ein wenig des salzigen Öls auf eine Semmel.

Großartig. Selten hat mir ein Mahl so gut geschmeckt, und der Gedanke, daßich nun für die nächsten Tage Proviant hatte, war ungeheuer beruhigend. Nun brauchte ich nicht zu rauben und zu stehlen ... Wenn ich jetzt am Ufer einen behäbigen Kleinbürger traf, der die Angelrute ins Wasser hielt und stundenlang auf den Federkiel starrte, während sein Frau, den breitrandigen Hut auf dem Kopf, im Grase neben ihm saß, dann blieb ich ruhig stehen, blickte ein paar Minuten auf den im Wasser schwimmenden Korken und wandte mich dann mit einer Bewegung, die sagen sollte, ich würde es ja doch nicht erleben, daßwirklich ein Fisch anbiß, ab und wanderte weiter. So fiel ich den Leuten gar nicht auf.

Auf dem Kanaldamm entlang ging es weiter nach Osten. Immer wieder schlängelte sich der Cher südlich an den Kanal heran. In dieser Gegend mußte die Sonne während des letzten Monats dauernd vom Himmel heruntergebrannt haben. Der Damm, auf dem ich marschierte, war ausgetrocknet und wies breite Risse auf.

Alle drei, vier Stunden streifte ich die Kleider vom Leibe und sprang ins Wasser. Da der Spiegel des Kanals mit einer schillernden Schicht von Öl und Petroleum bedeckt war, die von der Kanalschiffahrt herrührte, tauchte ich fast bis auf den Grund und trank mich dort, wo das Wasser viel sauberer war, nach Herzenslust satt.

Gegen Abend näherte ich mich einer Bahnlinie. Schon ein paarmal hatte ich Züge vorbeirollen sehen und mir die Zeiten ganz genau gemerkt. Früher oder später wollte ich ja die Bahn benutzen. Denn um durch ganz Frankreich zu Fußzu gehen, brauchte ich mindestens vierzehn Tage. Auf diesem langen Wege würde ich bestimmt vielen Gefahren begegnen. Wenn ich die Eisenbahn benutzte, dann lagen die Fährnisse wohl näher beieinander, aber sie gingen auch schneller vorüber. Warum sollte mich das Glück ausgerechnet dann verlassen, wenn ich in einen Zug stieg ?

Chabris hießder kleine Bahnhof, dem ich mich vorsichtig näherte. Es kam für mich darauf an, einmal zu beobachten, wie man hier in Frankreich eine Fahrkarte löst, ob es Bahnsteigsperren gibt und was der Dinge mehr sind, die man beachten muß, un nicht unnötig aufzufallen. So begab ich mich in die Bahnhofshalle, in der auch eine gute Eisenbahnkarte hing. Schnell stellte ich fest, wo ich mich befand, und wie ich weitermarschieren mußte. Auch auf den Fahrplan warf ich einen kurzen Blick, aber er ließsich nicht sehr leicht lesen. Um nicht unnötig aufzufallen, blieb ich nicht lange davor stehen, sonder tat, als erwarte ich jemand, sah zu wie die Personenschranken geöffnet wurden, und merkte, daßsich hier alles genau so abspielte wie bei uns in Deutschland.

Jetzt wußte ich genug. Ich ging weiter und kam zu der nahe dabei-liegenden Bahnhofswirtschaft. Vor dem Haus standen Tische und Stühle, und ein paar Leute, die hier gegessen und Bier getrunken hatten, eilten gerade fort, um den Zug noch zu erreichen. Da niemand in der Nähe war, setzte ich mich an einen Tisch, denn der Appetit auf ein Glas Bier war übermächtig in mir geworden. Als der Kellner kam und mich nach meinem Begehr fragte, verlangte ich, „une bouteille de biere"; er brachte sie, ich gab ihm einen Francs, den er einsteckte und verschwand. Nie im Leben habe ich etwas zu trinken bekommen, was mir so gut geschmeckt hat, wie dieses Bier.

Gern hätte ich mehr getrunken, aber ich rißmich doch los und setzte meinen Marsch fort. Der Abend kam. Das Bier hatte mich müde gemacht, und als es dunkelte, fand ich ein büschiges Gehölz etwas abseits vom Wege, legte mich hinein und erwachte erst, als es schon wieder ganz hell war.

Die Gurken, Sardinen, das letzte halbe Brötchen und dazu das klare Quellwasser —ein wundervolles Frühstück. In meine Essiggurkenflasche goßich Wasser, um diesen sauren Labetrunk möglichst in die Länge zu ziehen. Und da ich das später noch öfter tat, wurde das Ganze immer wässriger, und meine letzten Gurken schmeckten schließlich nach gar nichts mehr.

Der Ort, den ich jetzt zu erreichen trachtete, war Villefrance.

Dort hatte Clemenceau Kriegerdenkmäler mit blutrünstigen Revanchereden eingeweiht, und da sich in dieser Stadt große Amerikanerlager befanden, mußte ich mich darauf gefaßt machen, Militär zu begegnen.

Nach einem Marsch von zwei Stunden bot sich mir ein günstiger Badeplatz, ich zog mich aus, schwamm und rasierte mich. Als ich mich gerade vor meinem kleinen Handspiegel, den ich an einen Baum gebunden hatte, einseifte, kamen plötzlich zwei Mädchen den Hang hinab. Schleunigst schlüpfte ich in meine Hosen und suchte meine Toilette zu beenden. Es waren zwei Hirtenmädchen, hinter denen eine Kuhherde trottete, die sie dort ans Wasser trieben, wo ich gebadet hatte. Es waren hübsche und elegant angezogene Mädels mit niedlichen Gesichtern, die sie mit schicken Sonnenschirmen vor dem Braunwerden schützten.

Gern hätte ich mich mit ihnen unterhalten, aber Mädchen sind immer neugierig und in Frankreich auch gute Patriotinnen. Darum verzichtete ich lieber auf das Schäferstündchen, packte meine Toilettenartikel zusammen und wandte mich kurz mit einem vor mich hin geknurrten „Oui!" ab, als sie kichernd fragten: „Oh, monsieur, vous faites votre toilette ?"

Die hübschen Dinger zeigten sich wenig erbaut davon, daßich so kurz angebunden war und ohne sie zu beachten, losmarschierte.

Sie schauten mir angelegentlich nach und, um jeden Argwohn zu zerstreuen, drehte ich mich, als ich weit genug weg war, um und winkte ihnen freundlich zu.

In Villefrance ging ich nach dem Bahnhof und stellte fest, wann von dem etwa 24 km entfernten Virzon ein Zug nach Bourges abfuhr. Er ging um 7.30 abends. Und jetzt war es elf Uhr vormittags.

Na, da mußte ich stramm zuschreiten, wenn ich ihn noch erreichen wollte.

Auf dem Marsch lernte ich von meinem „Spickzettel", auf dem ich mir die notwendigsten französischen Redewendungen notiert hatte, wie man eine Fahrkarte verlangt. „Une troisieme Bourges

aller et retourune troisieme Bourges aller et retour." Stundenlangredete ich das vor mich hin, bis mir der Tonfall richtig erschien. Leider war mir unklar, was das eigentlich hieß, denn eine Rückfahrkarte wollte ich ja schließlich nicht haben. Aber was ich sagen mußte, um ein einfaches Billet zu bekommen, war auf meinem Zettel leider nicht verzeichnet.

Als es auf 6 Uhr abends ging, tauchten die Türme von Virzon im Spätnachmittagssonnenschein in der Ferne auf. Der Weg am Kanal war belebt, ein kleiner Junge kam mir entgegen und fragte, wie spät es sei. Verstanden habe ich ihn wohl, aber eine Antwort vermochte ich ihm nicht zu geben. Kurz entschlossen zog ich meine Uhr und sagte : „voila!" Er dankte und zog zufrieden ab.

Jetzt war ich in der Stadt drin und lief durch die Straßen. Es war fast 7 Uhr. Wo aber lag der Bahnhof ? Keine Ahnung. Da mußte ich halt fragen, und als mir eine ältere Frau entgegenkam, hielt ich sie an. „Oui est la gare ?" Blöde sah sie mich an, zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf. Sie schien taubstumm zu sein. Ich fragte sie noch einmal. Der Erfolg war der gleiche.

Sprach ich's falsch aus ? „La gare" hießdoch der Bahnhof. Ich wandte mich ab, ging weiter und war kaum zehn Meter gegangen, als es hinter mit herrief.

„Ah, monsieur la gaaare —!" Die alte Frau kam hinter mir hergeflitzt, jetzt hatte sie kapiert und wollte mir nun Bescheid sagen. Sie wies mit der Hand die Richtung und schnatterte: Geradeaus, links und rechts. Das ging so schnell, daßich ihr gar nicht zu folgen vermochte. Nun, jedenfalls wußte ich die Richtung. Ich bedankte mich höflich, ging weiter und fand auch bald den Bahnhof.

Vor dem einen offenen Schalter drängten sich viele Leute. Ich stellte mich an und paßte scharf auf, was die vor mir Stehenden sagten, und wie sie ihr Geld hingaben. Ich hatte meinen 50-Francs Schein gezogen, den ich wechseln wollte. Ganz wohl war mir nicht dabei, denn ich hatte ihn einst auf eigenartige Weise erhalten. Vielleicht war er gefälscht. Wir Kriegsgefangenen trauten den Franzosen alles zu, und es war ja auch nicht ausgeschlossen, daßsie uns gefälschtes Geld zuschmuggelten, um uns festnehmen zu können, wenn wir diese Scheine auf der Flucht ausgaben.

Nun war ich dran. „Une troisieme Bourges" verlangte ich. —„Aller et retour ?" Mir kam eine Erleuchtung. Das hätte ich auch gleich sagen können. „Aller!" Ich reichte ihm den 50-Francs-Schein durch das Schalterfenster. Der Beamte nahm ihn und drehte ihn hin und her. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen.

Der Mann hinter dem Schalter knurrte etwas. Es klang wie Schimpfen. Jedenfalls war er brummig, wie die Schalterbeamten bei uns in Deutschland auch sind, wenn sie einen größeren Geldschein wechseln sollen, und gab mir das Geld zurück.

Was sollte ich tun ? Kurzentschlossen griff ich in die Westentasche. Ich hatte noch ein Franc-Stück. Dies legte ich ihm auf das Zahlbrett und sagte kurz und mokant: „C'est tout !" Das war ihm offenbar doch zu wenig, und mein unbefangenes Hinwerfen des Geldstückes veranlaßte ihn, den Schein zu wechseln. Nur diese Zumutung war es gewesen, was ihn so ärgerlich gemacht hatte.

Das dauerte genau so lange wie in Deutschland. Hinter mir schimpften die Leute; ich bekam viel Geld zurück und freute mich über das Kleingeld. Das war viel wert. Als ich durch die Sperre ging, fuhr der Zug ein, und eine sich angeregt unterhaltende Gruppe von Bauern stieg mit ihren Frauen in ein Abteil. Sie schienen mir die richtigen Reisegefährten zu sein, denn sie hatten Gesprächsstoff genug. Ich konnte dabei sitzen, das Maul halten und tun, als gehörte ich dazu.

Bourges. überall standen Gendarmen herum. Sicher hatte man hier auch Kriminalbeamte postiert. Ich kletterte aus dem Zug, gab an der Sperre meine Karte ab und trat unbekümmert in die Schalterhalle. Hier stellte ich auf dem Fahrplan fest, daßam nächsten Morgen gegen 6 Uhr ein „Train rapide" durch Bourges kam, der von Nantes nach Lyon ging. Den wollte ich benutzen. Er fuhr herrlich schnell, und da das Eisenbahnfahren bis jetzt so gut geklappt hatte, war ich eigentlich recht guten Muts.

Als ich über den weiten Bahnhofsplatz der Stadt zustrebte, wurde ich aber plötzlich unsicher, ob der Zug, den ich mir zur Weiterfahrt ausgesucht hatte, nun auch wirklich am Morgen oder aber erst am Abend ging. Darum überzeugte ich mich noch einmal, daßmir kein Versehen unterlaufen war. Um nicht aufzufallen, durfte ich mich nur sehr kurze Zeit in der Vorhalle aufhalten, denn der Strom der Reisenden hatte sich verlaufen. Es war gegen 11 Uhr nachts, und ein paar Minuten später stand ich zum zweitenmal auf dem Bahnhofsplatz.

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